Kapitel 6

11.1 Wachsende Anzeichen eines grundlegenden Wertewandels

Zu Beginn der 1960er-Jahre mehren sich die Anzeichen dafür, dass die bisher sehr erfolgreiche Integration aller wesentlichen politischen Kräfte der Schweiz Risse bekommen hat. Zwar werden beide Initiativen gegen die atomare Aufrüstung der Schweiz deutlich abgelehnt – die Atomverbotsinitiative 1962 mit 537’387 gegen 286’858 Stimmen, die Initiative für ein obligatorisches Referendum über Atomwaffen 1963 mit 450 488 gegen 273 355 Stimmen. Aber schon die Tatsache, dass die Kantone Genf, Waadt, Neuenburg und das Tessin der Atominitiative zugestimmt haben, beunruhigt viele bürgerliche Politiker.1 Die offizielle Schweiz bemüht sich umso mehr, gegen aussen ein Bild wehrhafter Geschlossenheit zu zeigen – nicht zufälligerweise wird die Landesausstellung von 1964 durch einen Igel aus Beton geprägt der die «totale Landesverteidigung» zum Ausdruck bringen soll.2 Doch trotz solcher Versuche, die «Geistige Landesverteidigung» unter dem Vorzeichen des Antikommunismus wiederzubeleben, nimmt die Zahl der Dienstverweigerer in den 1960er-Jahren von Jahr zu Jahr zu.3

11.2 Ein politisches Erdbeben erschüttert die Bieler Politik – und damit auch die SP

Im Dezember 1962 beginnt in Biel ein politisches Erdbeben: Alt Stadtpräsident Guido Müller, alt Gemeinderat Fawer und zwei andere Fachleute stellen bei der Prüfung des Gemeindebudgets für 1962 fest, dass sich die ständigen Mitglieder des Gemeinderates Einkaufsgelder in die städtische Versicherungskasse von der Stadt Biel zurückerstatten liessen, ohne dass dies transparent kommuniziert wurde und ohne dass es dafür eine solide Rechtsgrundlage gab.4 Das Vorgehen des Gemeinderates wird in der Öffentlichkeit kritisiert und auf einmal sehen sich mit Stadtpräsident Paul Schaffroth (FdP) und Finanzdirektor König (SP) zwei zentrale Akteure der Bieler Politik massiver Kritik ausgesetzt. Um die Frage der Rechtmässigkeit der Rückzahlungen an acht amtierende oder ehemalige ständige Gemeinderäte sowie an die Witwe eines Exekutivpolitikers entbrennt eine Kontroverse, die bis vor den Regierungsrat des Kantons Bern geht. Dieser bestätigt mehr als einen Fehler des Gemeinderates in dieser Angelegenheit, sieht aber keine Amtspflichtverletzung der Bieler Exekutive. Erst 1968 wird die Affäre mit einem gerichtlichen Vergleich abgeschlossen.5
Die Pensionsgelderaffäre erschüttert und verändert auch die SP. Mehrere Kritiker des Bieler Gemeinderates sind Mitglieder der SP Madretsch, unter anderem Hans Kern und der Journalist Marcel Schwander, die ihre Recherchen zum Thema in einer Broschüre herausgeben.6 Die Mitgliedschaft mehrerer linkssozialistischer und nonkonformistischer Persönlichkeiten ist sicher ein wesentlicher Faktor für das Wachstum der Sektion Madretsch. Der Kampf gegen die atomare Bewaffnung der Schweiz zum Beispiel ist in Biel sehr populär – beide Volksinitiativen gegen eine atomare Bewaffnung der Schweiz werden in Biel klar angenommen.7 Das starke Mitgliederwachstum der SP Madretsch ab 1964 trägt dazu bei, dass Schwander(Nobel1965mitVizeGurtner?) zum Präsidenten der Gesamtpartei Biel gewählt wird. Dass die Sektion mehrheitlich weiterhin einen gemässigten Kurs verfolgt, zeigen die Gedanken des Parteipräsidenten Walter Gurtner im Jahresbericht 1964: Gurtner sorgt sich vor allem um die Verteidigung der Reallöhne und die Schaffung guter Kinderkrippen, Schulen, Spitäler und Altersheime. Er warnt vor der Gefahr eines modernen Krieges, vor der Verschmutzung von Wasser und Luft, aber auch vor der Überfremdung infolge der wachsenden Zuwanderung von Fremdarbeitern.8
Im November 1964 zeigen die Wahlen in den ständigen Bieler Gemeinderat, dass sowohl der gemässigte als auch der nonkonformistische SP-Flügel gut verankert sind: Die pragmatischen Sozialdemokraten Walter König und Jean-Roland Graf werden mit guten Resultaten wiedergewählt, aber auch der dissidente Sozialist Hans Kern zieht auf einer unabhängigen Liste in den ständigen Gemeinderat ein.9
Weggang von Walter König, Ersatz durch Walter Gurtner, Parteibüchlein- Affäre.

11.3 Der Kampf für einen zivilen Ersatzdienst bewegt die ganze Schweiz

Dass immer mehr junge Männer den Militärdienst verweigern, wird im Verlauf der 1960er-Jahre zu einem zentralen Thema der Schweizer Politik. Dienstverweigerer aus Gewissensgründen werden psychiatrisch untersucht, ein moralisches Problem wird damit pathologisiert. Gegen solche Verhältnisse kämpft zum Beispiel der Bieler Gymnasiallehrer Pierre Annen. Er wendet sich brieflich an Gegner/innen der atomaren Bewaffnung mit dem Vorschlag, ab Mitte 1964 den Militärdienst zu verweigern, falls nicht vorher das Recht auf einen Zivildienst eingeführt werde. Kurz darauf wird er von der Bundespolizei verhaftet und wegen öffentlichem Aufruf zum Ungehorsam zu 20 Tagen Gefängnis verurteilt.10 Weil er Annen die Adresskartei der Atomwaffengegner zur Verfügung gestellt hat, muss auch Arthur Villard für 15 Tage ins Gefängnis.11 Im Jahr 1965 wird Annen wegen möglichen künftigen WK-Verweigerungen gar zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Darauf verweigert Villard, der bisher über 1100 Diensttage geleistet hatte, aus Solidarität mit den inhaftierten Dienstverweigerern seinen letzten WK. Deswegen muss er für 45 Tage ins Gefängnis.13 Im Sommer 1966 führt die «Internationale der Kriegsdienstgegner» (IdK) für die beiden Verurteilten je eine Kundgebung vor der Strafanstalt Witzwil bei Ins durch. Beide Kundgebungen werden rabiat angegriffen. Bei der Kundgebung für Pierre Annen wird eine Demonstrantin von den Aufsehern der Anstalt mit Fäusten und Stöcken geschlagen. Anlässlich der Kundgebung für Arthur Villard in Ins werden Journalisten und Mitarbeiter des Schweizer Fernsehens zur Zielscheibe aufgebrachter Gegendemonstranten. Es kommt zu Tätlichkeiten gegen Kameraleute, die Ansprachen des Schriftstellers Jörg Steiner, des Journalisten Roman Brodmann und des SP-Sekretärs Jules Humbert-Droz werden massiv gestört, in der Menge der Gegendemonstranten wird gefordert, die «Vaganten» und «Verbrecher» aufzuhängen, ins Konzentrationslager zu schicken und mit Maschinengewehren zusammenzuschiessen. Darauf werden Plakate und Spruchbänder entwendet und verbrannt. Dies alles unter den Augen der Inser Polizei, die das alles zulässt und es nicht unterlässt, Demonstranten zu fotografieren und deren Autonummern zu notieren.
Das Verhalten der Gegendemonstranten wird von den Medienschaffenden überwiegend verurteilt, unter anderem in einem TV-Beitrag des Bieler Journalisten Mario Cortesi. Weil ihm zum Vorwurf gemacht wird, die Inser Bevölkerung pauschal zu kritisieren, wird Cortesi von der Arbeit für die Sendung «Antenne» vorübergehend suspendiert.14

Quellenangaben:
1 Buomberger T. (2017). Die Schweiz im Kalten Krieg. Verlag Hier und Jetzt, Baden, Schweiz, S. 163
2 Buomberger T. (2017). Die Schweiz im Kalten Krieg. Verlag Hier und Jetzt, Baden, Schweiz, S. 108
3 Schmid M. (1976). Demokratie von Fall zu Fall. Repression in der Schweiz. Verlagsgenossenschaft, Zürich, S. 399
4 Die Bieler Pensionsgelderaffäre. Herausgegeben von der Bieler Aktion zur Verteidigung der Rechte des Gemeindebürgers, September 1964
5 Bieler Jahrbuch 1969, Chronik des Jahres 1968
6 Die Bieler Pensionsgelderaffäre. Herausgegeben von der Bieler Aktion zur Verteidigung der Rechte des Gemeindebürgers, September 1964
7 Neues Bieler Jahrbuch 1962 und 1963, Bieler Chroniken vom 1. Januar bis 31. Dezember 1962 und 1963
8 GV der SP Madretsch. in: Seeländer Volkszeitung, 6. 4. 1964
9 Neues Bieler Jahrbuch 1964, Bieler Chronik vom 1. Januar bis 31. Dezember 1964
10 Schmid M. (1976). Demokratie von Fall zu Fall. Repression in der Schweiz. Verlagsgenossenschaft, Zürich, S. 329
11 Arbeitsgruppe «Arthur Villard 100-jährig» (2017). Arthur Villard. Ein Leben für Frieden und Gerechtigkeit. Herausgegeben aus Anlass seines 100. Geburtstages. Biel, Eigenverlag, S. 14
12 Schmid M. (1976). Demokratie von Fall zu Fall. Repression in der Schweiz. Verlagsgenossenschaft, Zürich, S. 329
13 Arbeitsgruppe «Arthur Villard 100-jährig» (2017). Arthur Villard. Ein Leben für Frieden und Gerechtigkeit. Herausgegeben aus Anlass seines 100. Geburtstages. Biel, Eigenverlag, S. 16
14 Schmid M. (1976). Demokratie von Fall zu Fall. Repression in der Schweiz. Verlagsgenossenschaft, Zürich, S. 338