Kapitel 5

10.1 Wirtschaftsaufschwung, Integration der Arbeiterbewegung, Antikommunismus

Selbst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird die Rationierung vieler Lebensmittel noch einige Zeit weitergeführt – man befürchtet eine neue Wirtschaftskrise. Diese bleibt jedoch aus, und ab dem Jahr 1950 beginnt ein Aufschwung, der fast ein Vierteljahrhundert anhalten wird. Die Wirtschaft wächst, die Löhne steigen, der Konsum nimmt zu. Die Schweizer Arbeiterschaft sieht keinen Grund, dieses vordergründig nur Erfolge verbuchende Gesellschaftsmodell in Frage zu stellen.
Der SP und den Gewerkschaften fällt es schwerer als zuvor, eigene Akzente zu setzen. Zudem werden sie immer mehr in das politische System eingebunden: Die Gewerkschaften werden im Rahmen der Vernehmlassung zu neuen Gesetzen konsultiert, die SP im Jahr 1959 durch die Gewährung eines zweiten Sitzes im Bundesrat noch stärker als bisher zu einer Regierungspartei gemacht. Zwar kritisiert die SP den Kapitalismus auch im Parteiprogramm von 1959, aber sie distanziert sich vom Klassenkampf.1
Die Integration der SP zeigt sich auch in internationalen Fragen: Im Verlauf der 1950er-Jahre nimmt sie immer konsequenter Partei für den Westen. Einen Marchstein bildet der sowjetische Einmarsch in Ungarn 1956. Die Abscheu gegenüber dem blutigen Vorgehen der sowjetischen Besatzer ist gross und erfasst fast alle Parteien in der Schweiz. Die berechtigte Empörung bereitet jedoch einem Klima den Boden, das jegliche Kritiker mundtot machen möchte. „Geh doch nach Moskau!“ lautet nur zu oft die Antwort, wenn jemand zu kritische Fragen stellt. Mitglieder der «Partei der Arbeit» gelten in den Augen vieler als Landesverräter, die angeprangert, beschimpft und ausgegrenzt werden müssen.2
Die blutige Zerschlagung der Demokratisierung in Ungarn wird in der Schweiz auch als militärische Bedrohung des neutralen Kleinstaats gedeutet. Um in einem Krieg mit dem Ostblock gewappnet zu sein, verlangen hohe Schweizer Militärs die atomare Bewaffnung der Schweiz und Kampfflugzeuge, die in der Lage wären, Moskau zu erreichen.3 Zur Frage der atomaren Bewaffnung kommt es in der SP zu einer tiefen Kontroverse.4

10.2 Das Ende des Roten Biel und die Veränderungen in der Bieler Arbeiterbewegung

Im Jahr 1947, nach Guido Müllers Rücktritt als Stadtpräsident, verliert die Bieler Linke das Stadtpräsidium.5 1956 verliert sie sowohl im Gemeinderat als auch im Stadtrat die Mehrheit.6 Sie bleibt aber auch in den Jahren der Hochkonjunktur eine wichtige politische Kraft, die ihre Basis gut mobilisieren kann. Das zeigt sich nicht zuletzt an den Maifeiern mit jeweils tausenden von Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Dank der guten Konjunktur gelingt es den Gewerkschaften, spürbare Lohnerhöhungen durchzusetzen – allein 1956 erreichen der SMUV und der VPOD Lohnerhöhungen von 7 Prozent. Die günstige Wirtschaftslage führt auch zu mehr ausländischen Arbeitskräften – um 1960 erreicht ihr Anteil in Biel knapp 10 Prozent. Die Gewerkschaften fordern einerseits eine würdige Unterkunft für diese Arbeiter, andererseits äussern sie ihre Besorgnis über das Ausmass, das die Zuwanderung fremder Arbeitskräfte angenommen hat.

10.3 Die SP Madretsch als sehr gut verankerte Sektion

Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt sich die SP Madretsch zu einer sehr gut verankerten Parteisektion. Die Mitgliederzahl steigt von etwa 180 (1945) auf 400 (1957). Damit ist Madretsch nicht nur in der Stadt Biel, sondern auch in der Region Biel-Seeland die mitgliederstärkste SP-Sektion.7 Insbesondere nach dem Parteieintritt des jungen Eisenbahners Guido Nobel sind zahlreiche Parteieintritte zu verzeichnen – als «Trompeter von Madretsch» trägt er auch zur musikalischen Bereicherung mancher Parteiabende bei. Von 1948 bis 1958 vertritt Nobel die SP Madretsch im Gemeinderat.
Die grösser gewordene Mitgliedschaft wird ab dem Jahr 1952 durch ein regelmässig erscheinendes Mitteilungsblatt informiert: «Der Madretscher» wird vom Vizepräsidenten der Sektion Fred Blatter und seiner Frau geschrieben, vervielfältigt und versandt.8 Im Vordergrund der Sektionstätigkeit stehen neben den Wahlkampagnen der Kampf für günstigen Wohnraum, für die Verkürzung der Arbeitszeit, für Kindergärten und Kinderkrippen, aber auch für Alters- und Pflegeheime.9

10.4 Der Einfluss des Kalten Krieges am Beispiel von Arthur Villard

Die scharfe Abgrenzung der SP von der Sowjetunion wird von den meisten Bieler Sozialdemokraten mitgetragen. Zu den wenigen Ausnahmen gehört Arthur Villard, der als engagierter Lehrer in Leubringen wirkt. 1945 gehört er zu den Mitbegründern der Gesellschaft Schweiz-Sowjetunion, 1949 ruft er mit anderen Friedensfreunden die Schweizerische Friedensbewegung (SFB) ins Leben. Wegen der Nähe mancher Persönlichkeiten der SFB zur Sowjetunion wird Villard bald angefeindet, in diesem Zusammenhang wechselt er 1954 vom Parti Socialiste Romand (PSR) in die Sektion Biel-Madretsch.10 Eine schwierige Situation für Villard ergibt sich im Herbst 1956 im Zusammenhang mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Ungarn. Während die SP Biel sich an Protesten gegen den Einmarsch beteiligt, verlangt Villard, diese Proteste mit einem Protest gegen die Besetzung ägyptischen Territoriums durch Grossbritannien, Frankreichs und Israel zu verbinden. Die Angriffe auf seine Person in der Lokalpresse bleiben nicht aus, er wird als «Kryptokommunist» bezeichnet. In den folgenden Monaten regt sich auch in der SP Madretsch Widerstand gegen seine Parteizugehörigkeit. Der Druck wird so stark, dass der Vorstand der SP Madretsch der Mitgliedschaft beantragt, Villard an der Parteiversammlung vom 9. 10. 1957 auszuschliessen.11 Nach der Zurückweisung dieses Antrags durch die Parteibasis in geheimer Abstimmung kommt es zu vereinzelten Parteiaustritten.12
Als es in Ungarn zu politisch motivierten Todesurteilen gegen Vertreter der Freiheitsbewegung kommt, protestiert Arthur Villard in einer Rede vor dem Weltfriedensrat vehement, er verlangt die Abschaffung der Todesstrafe aus politischen Gründen.13 Am 18. Mai 1958 gehört er zu den Initianten einer Volksinitiative, die die atomare Aufrüstung der Schweiz verbieten will. In der SP Biel findet er dafür nur zu Teil Unterstützung, unter anderem durch den Lehrer Hans Kern.14 Die SP Madretsch unterstützt mehrheitlich die Initiative der SPS vom 5. Oktober 1958, die eine atomare Bewaffnung der Schweiz dem obligatorischen Referendum unterstellen will.

Quellenangaben:
1 Spieler W. (2013). Wirtschaftsdemokratie als visionärer Kerngehalt der Programme der SP Schweiz. In: Einig – aber nicht einheitlich. 125 Jahre SP Schweiz. Zürich: Limmat Verlag
2 Behrens N. (2013). Kalter Krieg und Wirtschaftswunder. In: Einig – aber nicht einheitlich. 125 Jahre SP Schweiz. Zürich: Limmat Verlag
3 Buomberger T. (2017). Die Schweiz im Kalten Krieg. Verlag Hier und Jetzt, Baden, Schweiz, S. 145
4 Buomberger T. (2017). Die Schweiz im Kalten Krieg. Verlag Hier und Jetzt, Baden, Schweiz, S. 158
5 (Baumgartner)
6 Der Madretscher Nr. 1, 6. Jahrgang
7 Mitgliederbewegung. in: Sozialdemokratische Partei des Kantons Bern, Jahresbericht 1957
8 Madretscher Nr. 1, Februar 1990
9 Gurtner W. Jahresbericht 1957 der SP Madretsch, 22. 1. 1958
10 Arbeitsgruppe «Arthur Villard 100-jährig» (2017). Arthur Villard. Ein Leben für Frieden und Gerechtigkeit. Herausgegeben aus Anlass seines 100. Geburtstages. Biel, Eigenverlag
11 Einschreiben des Vorstands der SP Madretsch an Arthur Villard vom 11. Juni 1957
12 Austrittsschreiben G. Hediger, Akten der SP Madretsch
13 Arbeitsgruppe «Arthur Villard 100-jährig» (2017). Arthur Villard. Ein Leben für Frieden und Gerechtigkeit. Herausgegeben aus Anlass seines 100. Geburtstages. Biel, Eigenverlag
14 Schreiben an die SP Madretsch vom 19. 2. 1958, Akten der SP Madretsch