Kapitel 3

7. Die Weltwirtschaftskrise und der Aufstieg des Faschismus

Der New Yorker Börsencrash im Oktober 1929 führt zu einer weltweiten Wirtschaftskrise. Bald wird diese Krise auch in Biel spürbar. Die Zahl der Arbeitslosen nimmt rasch zu: von 700 (1929) auf 3293 (1931) und 4834 (1933). Die Erhöhung der Schutzzölle durch die USA trifft vor allem die Uhrenindustrie mit grosser Härte. Gemäss Zahlen des SMUV sind 1932 vier Fünftel der organisierten Uhrmacher ganz oder teilweise arbeitslos1. Die Behörden des Roten Biel unternehmen viel, um die daraus entstehende Not zu lindern. Mit der Zeichnung von Anleihen beschafft die Stadt im Jahr 1931 8 Millionen Franken, die es ermöglichen, umfangreiche Notstandsarbeiten zu finanzieren. Zum Beispiel wird das Kanalisationsnetz verbessert, wird das Strandbad gebaut2. Damit übernimmt Biel eine Pionierrolle in der Umsetzung antizyklischer Konjunkturpolitik.
Fürsorgedirektor Fawers Hauptziel besteht darin, Stellenlose möglichst bald wieder in einen Arbeitsprozess einzugliedern. Die hoffnungslose Lage vieler Entlassener veranlasst ihn 1931 zu einem aussergewöhnlichen Schritt. In Begleitung von Vertretern der Uhrenregion und von drei arbeitslosen Uhrmachern spricht er bei den Bundesräten Musy, Schulthess und bei Bundespräsident Motta vor. Die Delegation zeigt in klaren Worten die Dringlichkeit bundesrätlicher Massnahmen auf. Tatsächlich gewährt der Bundesrat bald darauf höhere Taggelder und erweitert seine Unterstützung von Arbeitsbeschaffungsmassnahmen3.

Im Verlauf der Weltwirtschaftskrise greifen materielle Not und soziale Unsicherheit um sich. Die politische Polarisierung zwischen linken und weit rechtsstehenden Kräften nimmt zu. In Deutschland wird Hitlers NSDAP im Juli 1932 zur stärksten Partei, auf der anderen Seite des politischen Spektrums gewinnen auch die deutschen Kommunisten neue Wählerstimmen4. Schon wenige Monate später wird Hitler zum Reichskanzler berufen. Mit der Unterstützung breiter bürgerlicher Kräfte im Reichstag macht er sich daran, die Demokratie in Deutschland zu zerstören5. Die bisher stärkste Arbeiterbewegung Europas erlebt eine Katastrophe: Ihre Parteien, Gewerkschaften und Genossenschaften werden zerschlagen, viele ihrer Abgeordneten und Aktiven verschwinden in Konzentrationslagern6. In Österreich gelangt der Austrofaschismus an die Macht. In den Jahren 1933 bis 1934 gelingt auch ihm die Zerstörung der Arbeiterbewegung7. In der Schweiz hält sich die politische Polarisierung in Grenzen, aber manche Auseinandersetzungen werden härter. 1933 wird die Stadt Biel zum Schauplatz eines heftig ausgetragenen Konflikts.

8.1 Das Pfingsttreffen der Sozialistischen Jugend in Biel

Vor dem internationalen Hintergrund gerät das Pfingsttreffen der Sozialistischen Jugend in Biel vom 3. bis zum 5. Juni 1933 zu einer symbolisch bedeutsamen Auseinandersetzung. Die Organisatoren haben den Genfer Sozialisten Léon Nicole als Redner eingeladen, den bekanntesten Vorkämpfer gegen den Rechtsextremismus in der Schweiz. Die mit dem Faschismus sympathisierenden «Fronten» und rechtsgerichtete Bürger Biels drohen sogleich mit einer Gegendemonstration.8 Darauf erlässt die Kantonsregierung ein Truppenaufgebot von 2300 Soldaten und ein Redeverbot für Nicole. Die 200 Jungsozialisten hören stattdessen eine Ansprache von Robert Grimm.9

8.2 Der Einsatz der SP Madretsch gegen die Krise und gegen neue Kriege

An der GV der SP Madretsch zu Beginn des Jahres 1932 geht es zwar auch um lokale Ziele. Die Mitgliederzahl soll weiter erhöht, die Verbreitung der «Seeländer Volksstimme» verbessert werden. Im Zentrum stehen aber die ganz grossen Themen: Der Krise und «möglichen neuen Kriegen» wird der Kampf angesagt.10 Weil ein bedeutender Teil der Mitgliedschaft direkt von der Krise betroffen ist, lehnt die Sektion eine Erhöhung der Mitgliederbeiträge an die SPS ab.11 Die in verschiedenen Arbeitervereinen aktiven Madretscher Sozialdemokraten engagieren sich an Wohltätigkeitsveranstaltungen zugunsten der ausgesteuerten Arbeitslosen.12 Vor allem aber setzen sie auf die Möglichkeiten der direkten Demokratie: 1933 beteiligen sie sich am erfolgreichen Referendum gegen den Lohnabbau beim Bundespersonal, 1937 sammeln sie 1300 Unterschriften für die Arbeitsbeschaffungsinitiative der SPS.14 Letztere wird 1939 zurückgezogen, nachdem der Bundesrat seine Massnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit stark ausgebaut hat15.

Der Kampf «gegen neue Kriege» ist eng mit dem Einsatz gegen die Ausbreitung des Faschismus in Europa verbunden. Wie anderen Organisationen der Arbeiterschaft bleibt der SP Madretsch nur die Möglichkeit, ihre Solidarität mit den immer zahlreicher werdenden Opfern zu zeigen. Bei diesen Solidaritätsaktionen arbeitet die Sektion wiederholt mit dem Arbeitermännerchor und dem Arbeiterturnverein zusammen, deren Darbietungen mobilisierend wirken. 1934 beteiligt sich die Sektion an Anlässen zugunsten der unterdrückten Wiener Arbeiterbewegung16, ab 1936 unterstützt sie das republikanische Spanien gegen den Militärputsch von General Franco. In diesem Zusammenhang verbringen zwei Kinder aus dem republikanischen Spanien 1939 einen Erholungsurlaub in Madretsch17, ausserdem organisiert die Sektion im selben Jahr einen Abend für die Amnestierung der Schweizer Spanienkämpfer, an dem auch der Spanienkämpfer Ernst Stauffer aus Nidau das Wort ergreift.18 Nur drei Monate später gelingt es Franco, ganz Spanien zu besetzen, und am Horizont zeichnet sich ein noch schrecklicherer Krieg ab.

Quellenangaben:
1 Gaffino, David (2013). Die Entstehung des Roten Biel (1921-1932). In: Bieler Geschichte 2, 1815 bis heute. Baden: Verlag hier + jetzt
2 Kästli, Tobias (1988). Das rote Biel. Theorie und Praxis des Gemeindesozialismus. In: Solidarität, Widerspruch, Bewegung. 100 Jahre Sozialdemokratische Partei der Schweiz. Zürich: Limmat Verlag Genossenschaft
3 Fawer Albert (1973). Paul Küffer (1890-1973). In: Neues Bieler Jahrbuch 1973, Biel, S. 116
4 Kinder H., Hilgemann W. u. Hergt M. (2010). Zeit zwischen den Weltkriegen, Deutsches Reich III. In: dtv-Atlas Weltgeschichte. München: DTV
5 Elze R. u. Repgen K. (1983). Studienbuch Geschichte. Vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg. Stuttgart: Klett-Cotta, 1983
6 Kinder H., Hilgemann W. u. Hergt M. (2010). Zeit zwischen den Weltkriegen, Deutsches Reich IV. In: dtv-Atlas Weltgeschichte. München: DTV
7 Kinder H., Hilgemann W. u. Hergt M. (2010). Zeit zwischen den Weltkriegen, Europa IV. In: dtv-Atlas Weltgeschichte. München: DTV
8 Flury Dorothea (1989). Biel im Frontenfrühling. Der Nationalsozialismus dringt ins Bewusstsein einer krisenversehrten Bevölkerung. In: Bieler Jahrbuch 1989
9 http://ch.indymedia.org/de/2003/04/7795.shtml, abgerufen am 20.03.2017
10 Seeländer Volksstimme, 20. 1. 1932
11 Seeländer Volksstimme, 15. 1. 1934
12 Seeländer Volksstimme, 22. 1. 1932
13 Seeländer Volksstimme, 5. 1. 1933
14 Seeländer Volksstimme, 20. 1. 1937
15 Hofer B. (2016). Volksinitiativen in der Schweiz. Die Entwicklung eines Schlüsselelements der Schweizer Referendumsdemokratie – Die Dokumentation aller Volksinitiativen auf Bundesebene von 1891 bis 2016. Eigenverlag
16 Seeländer Volksstimme, 15. 2. 1934
17 Engelmann Fredy, 50 Jahre Satus-Turnerinnen Madretsch. In:  Bieler Jahrbuch 1982, S. 193
18 Seeländer Volksstimme, 7. 1. 1939