Kapitel 9

13.1 Die SP Madretsch und die Entstehung der «Freien Bieler Bürger»

Im Hinblick auf die Gemeindewahlen vom November 1972 erwägen einige Mitglieder der Sektion, den dissidenten Sozialdemokraten Hans Kern in die SP Madretsch aufzunehmen. Walter Gurtner erklärt, dies sei unmöglich. Nach längerer Diskussion empfiehlt die Sektion, Walter Gurtner als Kandidaten für das Stadtpräsidium aufzustellen. Für den ständigen Gemeinderat werden Walter Gurtner und Arthur Villard, für den nichtständigen Gemeinderat Fred Blatter empfohlen.109 Die Gesamtpartei Biel entscheidet sich jedoch gegen eine Kandidatur Villard, was mehrere Mitglieder der Sektion enttäuscht, unter anderen den Journalisten Frank A. Meyer.
Um seine Kandidatur zu unterstützen und einer neuen politischen Kraft zum Durchbruch zu verhelfen, gründet Hans Kern kurz darauf gemeinsam mit Marlise Etienne von der Altstadtinitiative sowie den Journalisten Mario Cortesi und Frank A. Meyer eine neue Partei, die sich als «Bürgerinitiative» versteht: die «Freien Bieler Bürger» (FBB). «Kämpferischer als die SP, aber auch freisinnig im Sinn von sozialliberal» – so sieht Meyer die politische Ausrichtung der FBB.110 Tatsächlich ermöglichen die Gemeindewahlen vom 19. November 1972 den FBB einen erdrutschartigen Durchbruch, erzielen sie doch im Stadtrat acht von sechzig Sitzen, vor allem auf Kosten des Landesrings. Wegen der Nichtwiederwahl von Jean-Roland Graf (PSR) bleibt Walter Gurtner der einzige SP-Vertreter im ständigen Gemeinderat.111

13.2 Walter Gurtner – eine Würdigung

Gemäss dem Stadtratsentscheid vom 8. Februar 1973 gibt Walter Gurtner die Finanzdirektion an den Freisinnigen Fidel Linder ab und übernimmt von Hans Kern die Baudirektion – letzterer hat gemäss dem Willen der bürgerlichen Mehrheit die Fürsorgedirektion zu übernehmen, die zu diesem Zeitpunkt noch keine zentrale Rolle spielt.112 Gurtner setzt sich sogleich für den Bau eines Schulhauses auf dem Schnyderareal und für den Neubau des Gymnasiums ein. Doch bereits wenige Monate nach seinem Amtsantritt kommt Walter Gurtner bei einem heftigen Sturm auf dem Bielersee ums Leben – nach dem Kentern seines Segelbootes ertrinkt er, nur seine Frau kann im letzten Moment gerettet werden.113
Walter Gurtners früher Tod bedeutet für die Bieler Politik einen schweren Verlust. Nach dem Vertrauensverlust, der infolge der Pensionsgelderaffäre um sich gegriffen hat, symbolisierte er einen Neuanfang – als Präsident der Geschäftsprüfungskommission hatte er die Untersuchung dieser Affäre auf vorbildliche Weise geleitet. Nach seiner glanzvollen Wahl in den Gemeinderat verstand er es, die Sachzwänge des Exekutivamtes zu akzeptieren, ohne die guten Beziehungen zu den Personalverbänden zu gefährden.114 Die Budgets und Rechnungen der rasch wachsenden Stadt fanden trotz zweimaliger Erhöhung des Steuerfusses fast immer die Billigung des Stadtrats und der Stimmbürger/innen.

Quellenangaben:
109 Sektionsversammlung vom 16. Juni 1972, Protokollbuch der SP Madretsch ab Mai 1969
110 Rohrbach S. Freie Bieler Bürger, http://www.regionalesgedaechtnis.ch, abgerufen am 23. 7. 2019
111 Bieler Chronik vom 1. Januar bis 31. Dezember 1972, in: Neues Bieler Jahrbuch 1972
112 Bieler Chronik vom 1. Januar bis 31. Dezember 1973, in: Neues Bieler Jahrbuch 1973
113 Bieler Chronik vom 1. Januar bis 31. Dezember 1973, in: Neues Bieler Jahrbuch 1973
114 Walter Gurtner. Zum Andenken an Walter Gurtner, Gemeinderat in Biel, 21. Januar 1918 – 19. Mai 1973