Kapitel 4

9.1 Die Jahre des Zweiten Weltkriegs 1939-45

Die Aufzeichnungen des ältesten noch greifbaren Protokollbuchs der SP Madretsch beginnen mit dem 15. Mai 1942. Der etwas kleiner gewordenen Sektion gelingt es selbst in derart schwierigen Zeiten immer wieder, fünfzig und mehr Personen an ihre Versammlungen zu bringen. Der Versammlungsbesuch wird attraktiv gestaltet – manchmal singt zu Beginn der Arbeiterchor, manchmal referiert eine bekannte Persönlichkeit über die aktuelle Kriegslage, manchmal werden zum Schluss Filme über ferne Länder gezeigt. Mit den Schwächsten zeigt sich die Sektion konsequent solidarisch. Regelmässig geht ein Beitrag an das Arbeiterhilfswerk, ausserdem werden besondere Hilfsaktionen unterstützt. Zum Beispiel unterstützt die Sektion im Oktober 1942 eine Kleidersammlung für russische Kriegsgefangene, denen es gelungen ist, über den Rhein in die Schweiz zu flüchten.1

Am 31. Januar 1943, als in Stalingrad der grössere Teil der deutschen Sechsten Armee kapituliert, notiert der Protokollführer: Das blutige Ringen, wird eine bessere Welt daraus entspringen? Wir hoffen es und wollen helfen, so viel wir können.2

Bei der konkreten Gestaltung der Zukunft geht es den Madretscher Genossen vor allem um zwei Anliegen:
Auf gesamtschweizerischer Ebene verlangen sie konkrete Schritte zur Verwirklichung der AHV. Im Jahr 1943 verabschiedet die SP Madretsch einen Auftrag an den nationalen Vorstand der SPS: Zur Schaffung einer AHV auf Basis der Erwerbsersatzordnung soll eine Volksinitiative lanciert werden. Da kurz darauf andere Initiativen mit gleicher Stossrichtung vorliegen, zieht die Sektion diesen Antrag wieder zurück.3

Auf lokaler Ebene reagieren die Madretscher auf die zunehmende Wohnungsnot in Biel. Das von Architekt Eduard Lanz geprägte Modell des günstigen genossenschaftlichen Wohnungsbaus soll mit der Unterstützung neu gegründeter Wohnbaugenossenschaften ausgebaut werden. In einer diesbezüglichen Debatte wird der Bau von Einfamilienhäusern ausdrücklich abgelehnt – das passe nicht zur Arbeiterschaft.4
Das Rote Biel nimmt das Anliegen der Sektion auf. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg entstehen vor allem in Mett und Madretsch neue Genossenschaftssiedlungen. Es werden so viele, dass Biel neben Zürich noch heute als wichtigste Genossenschaftsstadt gilt.

9.2 Der Konflikt um Paul Fell und die erneute Spaltung der Arbeiterbewegung

Noch bevor der Zweite Weltkrieg zu Ende ist, eskaliert innerhalb der Bieler Arbeiterbewegung ein alter Streit: Paul Fell, der Vertreter eines linkssozialistischen Kurses, hat die Vertreter des pragmatischen Gemeindesozialismus um Stadtpräsident Guido Müller wiederholt kritisiert. Als er 1944 bei der Genodruck entlassen wird und aus der SP ausgeschlossen werden soll, bringen viele Mitglieder der SP Madretsch für Fells Sichtweise Verständnis auf.5 Die Sektion hofft auf eine gütliche Beilegung des Konflikts.6 Stattdessen kommt es zum endgültigen Bruch. Noch im selben Jahr gründet Fell die Sektion Biel der Partei der Arbeit (PdA), die bei den Gemeindewahlen von 1944 auf Anhieb 9 der insgesamt 60 Stadtratssitze holt.7

Die Spaltung der Arbeiterbewegung in einen kommunistischen und einen sozialdemokratischen Flügel beeinflusst die Bieler Arbeiterbewegung also auch gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die SP Madretsch erklärt dazu: „Wir stehen klar auf sozialdemokratischem Boden.“8

Aber welche Politik erwächst aus diesem sozialdemokratischen Boden, als weltweit der Kalte Krieg dazu auffordert, für einen der beiden Blöcke Stellung zu beziehen? Am 1. Juli 1949 – die Teilung Deutschlands in die westlich orientierte Bundesrepublik Deutschland (BRD) und die stalinistisch geprägte Deutsche Demokratische Republik (DDR) ist gerade sechs Wochen alt – spricht SP-Parteisekretär Jules Humbert-Droz vor der SP Madretsch: „Weder Ost noch West! Wie seit Jahrzehnten müssen wir an einer vollkommenen Neutralität festhalten. Wir kritisieren den Osten, aber auch den Westen, und wir halten in unserer vollkommenen Neutralität am Sozialismus fest.“ In der folgenden Diskussion stellen sich die Madretscher fast einhellig hinter diese Haltung.9

Quellenangaben:
1 Protokollbuch der SP Madretsch vom 15. Mai 1942 bis zum 10. März 1951, Protokoll vom 16. Oktober 1942
2 Protokollbuch der SP Madretsch vom 15. Mai 1942 bis zum 10. März 1951, Protokoll vom 31. Januar 1942
3 Protokollbuch der SP Madretsch vom 15. Mai 1942 bis zum 10. März 1951, Protokoll vom 27. August 1943
4 Protokollbuch der SP Madretsch vom 15. Mai 1942 bis zum 10. März 1951, Protokoll vom 9. November 1946
5 Protokollbuch der SP Madretsch vom 15. Mai 1942 bis zum 10. März 1951, Protokoll vom 3. März 1943
6 Protokollbuch der SP Madretsch vom 15. Mai 1942 bis zum 10. März 1951, Protokoll vom 29. August 1944
7 Kaestli Tobias (2013). Frontenbewegung und Zweiter Weltkrieg. In: Bieler Geschichte, Band 2, 1815 bis heute, Baden: hier&jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
8 Protokollbuch der SP Madretsch vom 15. Mai 1942 bis zum 10. März 1951, Protokoll vom 28. April 1944
9 Protokollbuch der SP Madretsch vom 15. Mai 1942 bis zum 10. März 1951, Protokoll vom 1. Juli 1949