Kapitel 8

12.1 Die SP Madretsch und der Aufbruch der Jugend

Schon im Sommer 1968 haben etwa 200 junge Leute an einer Demonstration in Biel ihre Solidarität mit der Bewegung für ein autonomes Jugendzentrum (AJZ) in Zürich gezeigt, aber gleichzeitig die Schaffung eines solchen Zentrums in Biel gefordert. Am 12. August verlangen die sozialdemokratischen Stadträte Ernst Stauffer, Otto Arnold und Rodolphe Grimm in einer Motion, der Bieler Jugend den ehemaligen Gaskessel als AJZ zu überlassen. Sobald der Gemeinderat der Erhaltung eines der beiden Gaskessel zugestimmt hat, nimmt das Vorhaben Gestalt an. Das Projekt eines autonomen Jugendzentrums erhält gar die Unterstützung der beiden freisinnigen Tageszeitungen, die eine Geldsammlung organisieren. Eine Schwierigkeit ergibt sich bloss daraus, dass der Gemeinderat von den Jugendlichen die Gründung eines Trägervereins verlangt.95
Die Bewegung für ein autonomes Jugendzentrum in Biel wird von der «Jeunesse Progressiste» (JP) getragen. Diese ist im April 1968 entstanden, und zwar aus dem gescheiterten Versuch, den Bieler Jungsozialisten wieder Leben einzuhauchen. Die jungen Leute geben sich antiautoritäre Strukturen, als oberste Instanz gilt die Vollversammlung der Mitglieder. Einige JP-Aktivist/inn/en verfechten jedoch einen Marxismus-Leninismus maoistischer Prägung.96 Zwischen den unterschiedlichen weltanschaulichen Strömungen kommt es zu intensiven Meinungskämpfen, zu den unterschiedlichsten Fragen werden Flugblätter verteilt und Zeitungen verkauft.
Auch innerhalb der SP Biel nimmt das Bedürfnis zu, mit wichtigen Themen an eine breitere Öffentlichkeit zu gelangen. Auf Vorschlag von Walter Gurtner wird das bisher vervielfältigte Parteizirkular «Der Madretscher» zu einer gedruckten Zeitung, die alle zwei Monate in jede Madretscher Haushaltung verteilt wird.97 Im Mai 1969 kommt die erste Nummer des SP-Bulletins «Der Bieler» heraus, das viermal pro Jahr die verschiedensten Fragen aus der Sicht des freiheitlichen Sozialismus beleuchten soll. Ein wichtiges Ziel ist die Erneuerung des Parteiprogramms der SP Biel.98
«Erneuerung» lautet auch das Schlüsselwort von Marcel Schwander. In einem Artikel des «Madretscher» betont er: «Eine Gesellschaft, die sich ständig und in immer schnellerem Rhythmus ändert, muss alle lebendigen Kräfte nutzen. Die Jugend wäre am ehesten in der Lage, die unaufhörlichen Veränderungen in unserer Gesellschaft zu erkennen und zu verstehen, von ihr sind die originellsten und fruchtbarsten Wege zur Lösung unserer Probleme zu erwarten. Sie könnte zur immer dringlicheren Umgestaltung und Erneuerung beitragen. Doch bisher ist sie von den wesentlichen Gremien der Entscheidung ausgeschlossen.» Schwander verlangt deshalb, den Jungen mehr Verantwortung zu übertragen, damit sie in einer Gesellschaft, die sie gleichzeitig in Frage stellen, ihre Aufgaben übernehmen können.99

12.2 Für eine Erneuerung des Theaters

Im Zusammenhang mit der Mitgliedschaft von Arthur Villard sind mehrere Medienschaffende und Kulturschaffende der Sektion beigetreten, unter ihnen Frank A. Meyer, Werner Hadorn, Benz Salvisberg, Stefan Kaspar, Urs Graf, Lis Kocher und Dieter Seibt.100 Dadurch widmet sich die Sektion verstärkt kulturpolitischen Fragen. In der Kontroverse um die mögliche Berufung des innovativen Dramaturgen Klaus Bremer an das Städtebundtheater Biel -Solothurn setzen sich vor allem Frank A. Meyer, Werner Hadorn und Walter Gurtner für Klaus Bremer ein, der für seine Versuche bekannt ist, das Publikum aus seiner Passivität herauszuholen.101 Doch noch während der Kontroverse in Biel wird Bremer an das Schauspielhaus Zürich berufen.

12.3 Die Einführung des Frauenstimmrechts in Biel, Verteidigung entlassener PTT-Angestellter

Am 18. Februar 1968 wird im Kanton Bern abgestimmt, ob die bernischen Gemeinden das Frauenstimmrecht auf Gemeindeebene einführen dürfen. Dank einer Motion des Bieler Stadtrats Marcel Schwander stimmen die Bieler Männer gleichzeitig darüber ab, ob das Frauenstimmrecht in Biel eingeführt werden soll. Mit einer Zweidrittelsmehrheit befürworten sie das Frauenstimmrecht! Am 25. Oktober feiert die SP diesen wichtigen Fortschritt mit einem Tanzabend im Restaurant Rotonde.102 In der SP Madretsch macht sich in jenen Jahren eine stärkere Beteiligung von Frauen an der Politik bemerkbar. Der Frauenanteil der Mitgliedschaft, langjährig deutlich unter 5 Prozent, übertrifft 1967 erstmals die Marke von 10 Prozent.103
Dass politisches Engagement oder schon nur verwandtschaftliche Beziehungen mit politisch Engagierten gefährlich werden können, erfahren ein knappes Jahr später zwei Angestellte der PTT. Die Telegraphistin Margret Schaffer und die Telefonistin Käthi Schäpper, Aktivistinnen der «Jeunesse Progressiste», werden aus fadenscheinigen Gründen von der Kreistelefondirektion fristlos entlassen. Wird bei Frau Schäpper argumentiert, sie habe das Dienstgeheimnis verletzt, behauptet PTT-Personalchef Tanner, Frau Schaffer sei «deshalb so gefährlich, weil sie ihre extrempolitische Tätigkeit im Hintergrund ausübe, sich keine Blössen gebe und es deshalb schwer halte, konkrete Beweise gegen sie zu sammeln.» Für den Journalisten Daniel Andres erfolgt diese Entlassung aus reiner Sippenhaft – Frau Schaffer ist die Schwester eines JP-Mitglieds.104 Die SP Madretsch verabschiedet ein Protestschreiben gegen diese Entlassungen, schliesslich hätten alle das Recht, sich politisch zu betätigen.105

12.4 Die Stimmfreigabe zur Schwarzenbach-Initiative

Als Begleiterscheinung des lange andauernden Wirtschaftsaufschwungs hat die Zuwanderung in die Schweiz stark zugenommen. Belief sich der Ausländeranteil 1950 noch auf 6,1 Prozent, sind es 1960 10,8 Prozent, 1970 17,2 Prozent. Das Tempo dieser Zunahme löst Ängste aus, die eigene Identität zu verlieren. Plötzlich wird die Einreise von angeblich «nicht assimilierbaren» Süditalienern zum Thema. Auch in der Arbeiterbewegung wird der Zuwanderung mit wachsender Skepsis begegnet. Zum Beispiel hat Nationalrat Max Weber anlässlich einer Versammlung des Gewerkschaftskartells und der SP-Gesamt-partei Biel im Februar 1965 betont, die Fremdarbeiter verursachten zu hohe Investitionskosten, zudem hat er die hohe Geburtenrate bei der ausländischen Bevölkerung kritisiert.106 In diesem Umfeld gewinnt die «Nationale Aktion für Volk und Heimat» unter dem rechtskonservativen James Schwarzenbach immer mehr an Einfluss. Mit einer Volksinitiative soll der Anteil der ausländischen Bevölkerung in allen Kantonen auf 10 Prozent begrenzt werden. Bei einer Annahme der Initiative müssten 350 000 Ausländerinnen und Ausländer die Schweiz von einem Tag auf den andern verlassen. Eine derart radikale Initiative wird von fast allen Parteien abgelehnt, aber die Umfragewerte der Vorlage sind gut. Auch in der SP Madretsch wird das Thema kontrovers diskutiert. Der Sektionspräsident Walter Gurtner begründet sein Nein zur Initiative mit der Notwendigkeit, den Menschen in den Vordergrund zu stellen. In der Diskussion werden Ängste laut, dass die Schweizer Arbeiter sich im Falle eines Neins vielleicht eines Tages nach den Ausländern zu richten hätten. Wegen des erheblichen Anteils an befürwortenden Voten übernimmt die Sektion nicht die Nein-Parole der SPS, sie beschliesst Stimmfreigabe.107 Das Abstimmungswochenende vom 6./7. Juni 1970 bringt fast 75 Prozent der Stimmberechtigten an die Urne. Die Zurückweisung der Initiative fällt mit 54 Prozent Nein-Stimmen weniger deutlichaus als erwartet. In Biel wird sie mit 6043 Ja- gegen 5753 Nein-Stimmen sogar angenommen.108

Quellenangaben
95 Maurer R. und Bugmann D. (2008). Die Geschichte des AJZ Biel. Eigenverlag AJZ Biel, S. 10ff
96 Andres D., Meyer, F. Nicht jeder Aussenseiter ist ein Bombenleger. NZ, 19. 10. 1970
97 suchen
98 Der Bieler Nr. 1, Mai 1969.
99 Schwander M. Report über eine verworfene Jugend. Der Madretscher, Oktober 1969
100 Protokollbuch der SP Madretsch ab Mai 1969. 23. 5. 1969, 30. 10. 1969, 19. 8. 1971
101 Protokollbuch der SP Madretsch ab Mai 1969. 30. 10. 1969
102-Biel sagt «JA» zum Fortschritt. die zukunftsstadt Nr 16, November 1968
103-Protokollbuch
104-Andres D. und Meyer F. A., «Von besonderer Gefährlichkeit», in NZ, 15. 10. 1970
105-Parteiversammlung vom 30. 10. 1969, in: Protokollbuch der SP Madretsch ab Mai 1969
106-Gegen Überfremdung, Wohnungsnot und Teuerung. Seeländer Volkszeitung, 25. 2. 1965
107-Parteiversammlung vom 29. 5. 1970, in: Protokollbuch der SP Madretsch ab Mai 1969
108-Gaffino D. (2013). Soziale, politische und wirtschaftliche Krisen in Biel. in: Bieler Geschichte Band 2, 1815 bis heute, S. 947