Kapitel 2

7. Das „Rote Biel“, der Gemeindesozialismus

Nach dem Landesstreik wird die soziale Not am Ende des Ersten Weltkriegs ein wenig gelindert. Wegen einer Wirtschaftskrise werden aber auch die ersten Nachkriegsjahre zu einer schwierigen Zeit für die Arbeiterschaft. Nicht zuletzt deshalb rückt die Arbeiterbewegung auch in der Schweiz nach links. Die Oktoberrevolution in Russland vermittelt den Eindruck, dass die Arbeiterschaft in der Lage sei, das Bürgertum zu entmachten und die Staatsmacht zu übernehmen. Der russische Revolutionsführer Lenin fördert die Entstehung einer weltweiten politischen Kraft links von der Sozialdemokratie. Im Jahr 1919 organisiert sie sich in der «Kommunistischen Internationalen» (Komintern). Weltweit kommt es deshalb zur Spaltung der Arbeiterbewegung. In der Schweiz entsteht zwischen 1918 und 1921 die «Kommunistische Partei der Schweiz». Ihre Bieler Sektion soll in ihren Anfängen 500 Mitglieder zählen.1

Diese Bewegung nach links macht sich auch in den Bieler Gemeindewahlen des Jahres 1921 bemerkbar. Zum ersten Mal bei Gemeindewahlen will die Bieler Wählerschaft eine linke Mehrheit: Die Bieler Sozialdemokraten erzielen 30 Sitze im 60-köpfigen Stadtrat und fünf von neun Gemeinderäten.2 Damit scheint der Weg für den «Gemeindesozialismus» frei zu werden: Wenigstens auf lokaler Ebene soll sich das Gemeinwesen schon hier und jetzt in den Dienst der sozial Benachteiligten stellen. So empfiehlt es Paul Pflüger, der Vordenker des Gemeindesozialismus.
Kann «Das rote Biel» tatsächlich nach und nach zu einem sozialen Gemeinwesen werden, in dem die Stadt den sozialen Wohnungsbau fördert, die öffentlichen Dienste und die Fürsorge ausbaut? Anfänglich sieht es nicht gut aus: Die hoch verschuldete Stadt Biel hat nicht nur kein Geld, sie hat auch keinen Kredit. Der Madretscher Sozialdemokrat und 1921 in den Gemeinderat gewählte Albert Fawer erinnert sich: „Die Banken trauten der Stadt im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr über den Weg.“3 Erschwerend kommt hinzu, dass die Anfänge des „Roten Biel“ mit dem Beginn einer langen Reihe von wirtschaftlich schwierigen Jahren zusammenfallen. Erst die «Goldenen Zwanziger» zwischen 1924 und 1929 erlauben es für eine kurze Zeitspanne, die finanzielle Situation der Gemeinde zu verbessern.

8. Die SP Madretsch als vielseitige Organisation im Dienst der Arbeiterschaft

Was aber geschieht damals an der Basis der SP Madretsch? Die Folgen der Nachkriegskrise belasten auch diese Sektion, sie verliert bis 1923 ein Viertel der Mitgliedschaft.4 Mehrfach protestiert die Partei gegen Hausbesitzer, die mittellose Familien auf die Strasse setzen. Eine tragende Säule der Sektion ist der Bildungsausschuss, der Vorträge und Besichtigungen organisiert: Die Mitglieder sollen wichtige Institutionen der Bieler Arbeiterbewegung näher kennen lernen, zum Beispiel die Infrastruktur der Konsumgenossenschaft Biel, die Genossenschaftsapotheke, die 1922 ins Leben gerufene Genossenschaftsdruckerei.5
Auf Wunsch der Mitglieder organisiert der Ausschuss aber auch Familienausflüge auf die Jurahöhen. Zudem erlauben die Anlässe befreundeter Organisationen wie jene des Arbeitersängerchors die Pflege der Geselligkeit. Die Bibliothek des Bildungsausschusses mit 400 Büchern wird zu wenig rege benutzt, daher wird der Bestand 1929 in die Bibliothek der Arbeiterunion integriert.6 Um den Familien bei Todesfall eines Mitglieds Beistand zu leisten, gründet die Sektion 1928 eine Sterbekasse.7
Der Sektion liegt viel daran, die Institutionen der Bieler Arbeiterbewegung zu stärken. Immer wieder ruft sie die Mitglieder dazu auf, die 1922 gegründete «Seeländer Volksstimme» zu abonnieren. Für den Ausbau dieser Zeitung verkauft sie eigens geschaffene Marken. Auch der Neubau des Volkshauses wird mit einem Markenverkauf unterstützt. 1929 lanciert die Sektion eine Petition für das Frauenstimmrecht.8
Auf nationaler Ebene beteiligen sich die Madretscher Genossen mit grossem Einsatz an den Kampagnen der SPS. Ein Beispiel dafür ist die Abstimmungskampagne gegen die Lex Schulthess, welche die soeben errungene 48-Stunden-Woche wieder in Frage stellen wollte.9 Tatsächlich wird die «Lex Schulthess» am 14. Februar 1924 bei einer hohen Stimmbeteiligung von 77 % mit 57,6 % Nein-Stimmen abgelehnt.10

Quellenangaben:
1 Roth Rudolf (1959) Das Volkshaus Biel und das Werden der Arbeiterbewegung
2 Gaffino, David (2013). Die Entstehung des Roten Biel (1921-1932). In: Bieler Geschichte 2, 1815 bis heute. Baden: Verlag hier + jetzt
3 Probst Fritz (1980). Albert Fawer (1891-1980). In: Neues Bieler Jahrbuch 1980, S. 227
4 Kassabuch der SP Madretsch vom bis
5 Berner Tagwacht, 7. 5. 1920
6 Seeländer Volksstimme, 28. 1. 1929
7 Seeländer Volksstimme, 13. 1. 1928
8 Seeländer Volksstimme, 28. 1. 1929
9 50 Jahre Sozialdemokratische Partei Madretsch. In: Seeländer Volksstimme, 22. 1. 1937
10 https://de.wikipedia.org/wiki/Edmund_Schulthess, abgerufen am 17.04.2017