Kapitel 10

14.1 Der Streik bei der Pianofabrik Burger & Jacobi

Unter dem Eindruck der zunehmenden Konkurrenz aus Asien und aus Osteuropa weigert sich die neue Geschäftsleitung der Firma Burger& Jacobi im Frühling 1974, bereits gemachte Zusicherungen an die Belegschaft zu erfüllen. Die gemäss gültigem Gesamtarbeitsvertrag für Schreiner zu bezahlenden Löhne werden in Frage gestellt – schliesslich arbeite niemand in der Belegschaft als Schreiner. Auch von der schrittweisen Einführung des 13. Monatslohns ist nicht mehr die Rede. Nachdem die Geschäftsleitung das Urteil der Schlichtungsstelle Seeland vom 9. Mai zurückweist, treten 41 der 55 Angestellten der Pianofabrik in den Streik. Der Streik wird von der Gewerkschaft SBHV unterstützt, in der Stadt kommt es zu Solidaritätskundgebungen mit den Streikenden.
Sehr bald gewinnt der Arbeitskampf, der mit ungewöhnlicher Heftigkeit geführt wird, schweizweit an Aufmerksamkeit. Ezio Canonica, Nationalrat und Präsident des SGB, interveniert und erwirkt am 11. Juli einen Kompromiss, dem die Mehrheit der Streikenden zustimmt: Der 13. Monatslohn wird schrittweise eingeführt, aber ein Jahr später als ursprünglich vorgesehen.116 Die SP Madretsch unterstützt die Verhandlungslösung, lobt das Vorgehen des Gewerkschaftskartells Biel und kritisiert die «unbesonnene Haltung» einiger SP-Mitglieder. Von «Marxisten-Leninisten und anderen Subjekten» grenzt sich die Sektion mit Entschiedenheit ab.117
Der Verhandlungserfolg der Streikenden erweist sich bald als trügerisch – in den folgenden Monaten verschlechtert sich die Ertragslage der Firma, bald darauf werden mehrere der aktivsten Streikteilnehmer entlassen.118

14.2 Von der Zukunftsstadt zur Krisenstadt: Biel und der Niedergang der Uhrenindustrie

Noch in den 1960er-Jahren behauptete die Schweizer Uhrenindustrie einen Weltmarktanteil von über 50 Prozent. Doch schon in den frühen 1970er-Jahren geht dieser Anteil spürbar zurück, 1978 beträgt er noch 24 Prozent.119 Zwei wichtige Ursachen dieses Rückgangs betreffen die Produktionsstrukturen und die Wechselkurse. Während in der Schweiz vor allem die günstigen Uhren in Massenproduktion hergestellt werden, werden in Japan auch die Qualitätsuhren in Fliessbandarbeit produziert. Dazu kommt, dass der Schweizer Franken nach der Aufhebung der fixen Wechselkurse 1973 immer teurer wird – in den 1970er-Jahren verliert der Dollar gegenüber dem Franken 60% seines Werts. Dass der Wechselkurs des japanischen Yen gegenüber dem Dollar bis 1977 fest bleibt, trägt dazu bei, dass die japanische Konkurrenz den Marktanteil der Schweizer Uhren in den USA schrumpfen lässt.120
Die Folgen für Biel sind schmerzhaft: Im Februar 1975 gibt die Fédération Horlogère 215 Entlassungen bei der Bulova und 80 Entlassungen beim Omega-Konzern bekannt. Schon einen Monat später verkündet die ASUAG für ihre 13’500 Beschäftigten die Kürzung von Arbeitszeit und Löhnen um 10 bis 20 Prozent, weitere Betriebe folgen mit ähnlichen Abbaumassnahmen.121
Mitglieder der SP Madretsch setzen sich früh für die Verteidigung der Arbeitsplätze ein. Im Nationalrat interveniert Arthur Villard schon im Winter 1972 und im Frühjahr 1973, indem er vor einer möglichen Krise warnt.122 Die Sektion verabschiedet eine Resolution, in der sie den sofortigen Ausbau der Arbeitslosenversicherung fordert, die Leistungen sollen auch die Kosten für Umschulung, Teilarbeitslosigkeit und Kurzarbeit umfassen. An den Kosten für diesen Ausbau sollen sich die Grosskonzerne und «Grossverdiener jeder Art» beteiligen.123

14.3 Ein weiterer Schlag: Die Schliessung der General Motors

Biel zählt etwa 500 Ganzarbeitslose und über 6000 Teilarbeitslose, als die General Motors Suisse AG (GM) am 23. Mai die Schliessung ihres Automontagebetriebs auf Ende August bekanntgibt. Von dieser Massnahme werden etwa 500 Arbeiter und Angestellte betroffen sein. Die neue Hiobsbotschaft löst in der ganzen Stadt grosse Betroffenheit aus. Die SP Biel verlangt vom Gemeinderat, mit der Direktion der GM Möglichkeiten zur Weiterbeschäftigung der von einer Entlassung bedrohten Arbeiter zu erörtern. Am 26. Juni kommt es im Stadtrat zu scharfer Kritik an der mangelnden Aktivität des Gemeinderates und des Stadtpräsidenten.124 In einer Interpellation erkundigt sich Arthur Villard beim Bundesrat, ob er Massnahmen für die von den GM-Entlassungen schwer getroffene Region Biel zu treffen bereit sei. Unter anderem erkundigt er sich nach der Bereitschaft der Landesregierung, für einen guten Sozialplan einzustehen.125 Nach der Sommerpause wird die Autofabrikation der GM in Biel eingestellt. Das einzige, was die Behörden und die Gewerkschaften erreicht haben, ist ein guter Sozialplan und die ziemlich erfolgreiche Unterstützung der Entlassenen bei der Stellensuche oder der Neuorientierung: Für 81 Prozent der Entlassenen kann bis im August eine Lösung gefunden werden.126

Quellenangabe
116 Gaffino D. (2013). Soziale, politische und wirtschaftliche Krisen in Biel. in: Bieler Geschichte Band 2, 1815 bis heute, S. 957
117 Der Madretscher 7, September 1974
118 Gaffino D. (2013). Soziale, politische und wirtschaftliche Krisen in Biel. in: Bieler Geschichte Band 2, 1815 bis heute, S. 957
119 https://www.nzz.ch/die_wiedergeburt_der_schweizer_uhrenindustrie-1.6370781, abgerufen am 1. 8. 2019
120 Donzé P-Y. (2011) La crise horlogère suisse de 1975-1985 revue et corrigée. in: Le Temps, 19 janvier 2011
121 Bieler Chronik vom 1. Januar bis 31. Dezember 1975, Seiten 194ff
122 Warum man Arthur Villard wieder in den Nationalrat wählen muss. in: Der Madretscher Nr. 8, Oktober 1975
123 Nicht auf dem Buckel des Arbeitnehmers, des gesunden Gewerbes und Kleinhandels. in: Der Madretscher Nr. 4, April 1975
124 Bieler Chronik vom 1. Januar bis 31. Dezember 1975, Seite 202
125 GM. in: Der Madretscher Nr. 6, Juni 1975
126 Bieler Chronik vom 1. Januar bis 31. Dezember 1975, Seite 204