Der 1. Mai im Zeichen der roten Nelke

„Weitauf, Weitauf, die Herzen, die rote Nelke siegt!“

Die Arbeiter marschierten mit ihren Frauen und Kindern in geschlossenen Viererreihen und mit vorbildlicher Disziplin in den Prater, jeder die rote Nelke, das Parteizeichen, im Knopfloch. Sie sangen im Marschieren die Internationale …

So beschrieb Stefan Zweig in seiner Autobiographie, welchen Eindruck er vom Maiaufmarsch 1890 in Wien als Neunjähriger gewann.

Auch Paul Löbe, mit kurzer Unterbrechung von 1920 bis 1932 Reichstagspräsident, machte am 1. Mai 1890 als fünfzehnjähriger Lehrling in Liegnitz (heute Legnica) eine ähnliche Erfahrung:

Da Versammlungen verboten waren, blieb nur der gemeinsame Ausflug in benachbarte Gartenlokale übrig. Das Mitführen von Fahnen war selbstverständlich auch nicht gestattet, darum wählte man die rote Nelke im Knopfloch als Abzeichen der Gleichgesinnten.

Die rote Nelke, die auch für die aufgehende Sonne stand, war somit auf das Engste mit dem 1. Mai verbunden, an dem die Arbeiterbewegung den Achtstundentag forderte.

Das Sozialistengesetz im Deutschen Reich verlor erst am 30. September 1890 seine Gesetzeskraft, so dass weiterhin politische Versammlungen und auch das Tragen von Fahnen verboten blieben. Die rote Nelke im Knopfloch oder an der Kleidung wurde so zum Symbol des Protestes und des proletarischen Zusammenhalts. Diese Protest- und Identitätssymbolik behielt die rote Nelke bis in die Weimarer Republik bei.

Weitere Symbolkraft gewann die Nelke für die proletarische Frauenbewegung. Am 19. März 1911 fand in vielen Ländern der 1. Internationale Frauentag statt. Zentrale Forderung war die Einführung des Frauenwahlrechts. Im Deutschen Reich, genauer in Göppingen riefen SPD und Gewerkschaften zum „Allgemeinen Frauentag“ auf:

Um den Frauentag imposant zu gestalten, haben die Unterschreibenden beschlossen, der Arbeiterschaft des Bezirks zum Zeichen der Solidarität mit der Forderung des Frauenwahlrechts das sichtbare Tragen der Blume der Gleichheit (rote Nelke) am 19. März zu empfehlen.

Die Sozialdemokratin Käthe Duncker referierte an diesem Tag zum Thema „Heraus mit dem Frauenwahlrecht“. Ab 1921 wurde der 8. März zum Internationalen Frauentag.

International bekam die rote Nelke 1974 neue Bedeutung, als in einem Aufstand junge Soldaten in Portugal die älteste Diktatur Europas stürzten. Ihre Gewehre wurden von der Zivilbevölkerung mit roten Nelken geschmückt und der Aufstand wurde in Folge die Revolução dos Cravos (Nelkenrevolution) genannt. Mit ihren freiheitlich-sozialistischen Idealen stellten sie sich in die Traditionslinie der kämpferischen Tradition von 1890.

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L’oeillet rouge, un symbole clé du premier mai
Unser Aufruf zum Tag der Arbeit