Der neue Sonabend-Platz in Biel-Madretsch erinnert an einen letzten Moment der Sicherheit – es folgte eine Tragödie

Dis Asylpolitik der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs 1939 – 1945 wurde von antisemitischen Denkmustern beeinflusst. Dieser Politik fielen viele Menschen zum Opfer, die wegen ihres jüdischen Glaubens verfolgt wurden. Am 8. Mai 2025 werden in Biel zwei „Stolpersteine“ gelegt, um an Menschen zu erinnern, die in Biel gelebt haben oder nach Biel geflüchtet sind: An Frau Clara Pintschuk und an das Ehepaar Simon und Laja Sonabend. Weil der Familie Sonabend ein Platz in Biel-Madretsch gewidmet wird, soll im Folgenden an die tragischen Ereignisse im August 1942 erinnert werden.

Die Familie Sonabend, eine belgische Familie jüdischen Glaubens, lebte während des Zweiten Weltkriegs in Brüssel. Simon Sonabend pflegte Geschäftsbeziehungen in die Region Biel: Als Importeur war er ein guter Kunde der hiesigen Uhrenindustrie, die Familie war relativ wohlhabend.
Doch seit dem Jahr 1940 war Belgien unter der Kontrolle der nationalsozialistischen Wehrmacht, und seit der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 war die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung im gesamten Machtbereich der Nationalsozialisten beschlossene Sache.

Im Sommer 1942 zog sich auch für die Juden im besetzten Belgien die Schlinge zu. Bereits im Frühling war sich die jüdische Gemeinde in Brüssel im Klaren darüber, was in Polen geschah: die Deportation und Ermordung der Juden in Vernichtungslagern.
Vermehrt erhielten nun auch die Brüsseler Juden den Befehl, sich im Durchgangslager Malines zu melden. Von dort werde man zum Arbeitseinsatz in den Osten geschickt, hiess es. Ein solcher Stellungsbefehl erreichte Ende Juli auch die Familie Sonabend.

Simon Sonabend fand einen Franzosen, der sich bereit erklärte, seine Familie in die Schweiz zu schmuggeln. Die Kosten für die Beschaffung falscher französischer Pässe und die Begleitung der Familie von Brüssel über die Berge in die Schweiz beliefen sich auf 125.000 Schweizer Franken (nach heutigem Wert mehr als 500.000 Pfund).

Den grössten Teil ihres Vermögens liess die Familie Sonabend in verschiedenen Verstecken in Brüssel zurück. Das übrige Gold, in Lippenstiftdosen verpackte Diamanten und Bargeld im Wert von etwa 20.000 Dollar waren in den Taschen versteckt, die die vier Sonabends nach Besancon nahe der Schweizer Grenze brachten.
In der Nacht des 12. August 1942 folgte die Familie dem Franzosen über die Bergpfade. Sie hatten allen Grund zur Hoffnung. Bei Tagesanbruch blickte der Führer in ein grünes Tal hinab und verkündete triumphierend: „Ihr seid in der Schweiz“.
„Wir sind frei“, seufzte Charles Sonabend. „Gerettet.“

Nach ihrer Ankunft in Biel am Freitagnachmittag des 14. August wurde die Familie Sonabend vom Direktor der Uhrenfabrik Frey & Co. am Mon-Désirweg 11 in Biel-Madretsch willkommen geheissen. Doch es sollte das letzte Mal sein, dass diese Familie in Freiheit vereint war.

Denn als ein Freund der Familie die Ankunft seiner Gäste bei der Polizei meldete, hatte dies unheilvolle Folgen:  Noch fast niemandem war bekannt, dass die Schweizer Behörden am 13. August 1942 die Polizeibehörden angewiesen hatten, eine rigorose Grenzsperre gegen jüdische Flüchtlinge durchzusetzen. Am Samstagmorgen kamen zwei Polizisten zum Haus, wo die Kinder übernachtet hatten, und befahlen den Kindern zu packen. „Wir können nicht verreisen“, antwortete der verwirrte Junge, „es ist Sabbat“. Rücksichtslos packten die Polizisten Charles, seine Schwester Sabine und ihre verzweifelte, gebrechliche Mutter Laja («Lili») in ein Auto.

Ihr unmittelbares Ziel war das Kloster der Ursulinen in Porrentruy, ein malerisches Gebäude aus dem 16. Jahrhundert, das von engen, gepflasterten Gassen umgeben ist und von den Bergen des Jura überragt wird. Die Nonnen hatten sich bereit erklärt, die Belgier bis zu ihrer Deportation über die Grenze nach Frankreich gefangen zu halten.
Als sie aus dem Kloster geschleppt wurden, brach Lili schreiend auf dem Bürgersteig von Porrentruy zusammen und zog damit die Aufmerksamkeit von 50 empörten Einwohnern auf sich, die gegen ihre Deportation protestierten. Madame Sonabend tat so, als würden sie erschossen, wenn sie deportiert würden“, berichtete der Polizist. Die Nonnen hingegen blieben ungerührt. Aufgrund des Bürgerprotests verzichtete die Polizei darauf, die Ausschaffung nach am gleichen Tag zu vollziehen.

Die Familie musste die Nacht im Gefängnis von Porrentruy verbringen. Am folgenden Tag, gegen neun Uhr abends, wurde sie von Polizisten in Zivil abgeholt und in einem Taxi nach Boncourt gebracht. Um 22 Uhr 30 – es war schon tiefe Nacht – schickte die dortige Polizei die Familie über die Grenze ins nationalsozialistisch kontrollierte Frankreich.
Nach der Vertreibung aus der Schweiz ging alles ganz schnell. Charles Sonabend erinnerte sich:
„Wir hatten keine Strassenkarte und keine Anweisung, wohin und auf welche Seite wir gehen sollten. Als wir beim Weg ankamen, wussten wir nicht, ob wir uns nach links oder rechts wenden sollten. Zur einen Seite lag in der Ferne ein Wald, zur anderen Seite war ein Weg. Und unterdessen, während wir unschlüssig waren über die einzuschlagende Richtung, hörten wir in der Ferne einen Hund kläffen (…). Wir versteckten uns hinter einem kleinen Gebüsch. Es war in der Tat eine weitere deutsche Patrouille, die kam. Sie hatten einen Hund, der uns aufgespürt und an der Leine gezogen hatte. Die Deutschen fanden uns sofort.“
Man brachte sie auf einen Posten. Am nächsten Tag wurden sie von zwei Uniformierten nach Belfort gebracht. In Belfort sahen die Kinder ihre Eltern zum letzten Mal. Die Erwachsenen schickte man nach Drancy. Von dort wurden sie am 24. August direkt nach Auschwitz deportiert. Unter den 1’007 Insassen des Zuges befanden sich noch andere Juden, deren Flucht in die Schweiz gescheitert war; einige hatten wie Charles Sonabend vor ihrer Vertreibung im Gefängnis von Pruntrut eingesessen. Die Frauen und Kinder, darunter auch Laja Sonabend, wurden sofort nach ihrer Ankunft vergast, die Männer, darunter auch Simon Sonabend, ein wenig später.

Dass die Kinder, Charles und Sabine Sonabend, überlebt haben, war einem Zufall zu verdanken: Weil das Durchgangslager Drancy bereits überfüllt war, wurden sie der Vereinigung Union Générale des Israélites de France übergeben, die sie dem deutschen Zugriff zu entziehen vermochte.

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