Kapitel 1

1. Madretsch im Brennpunkt des industriellen Fortschritts

Als die SP Madretsch zu Beginn des Jahres 1914 ihre Arbeit aufnimmt, ist sie nur die jüngste Organisation einer gut verankerten lokalen Arbeiterbewegung. Denn bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist das einstige Strohhüttendorf Madretsch zu einem wichtigen Industriestandort geworden, dessen Bevölkerung in fast amerikanischem Tempo zugenommen hat. Mit einer Zuwachsrate von 125 Prozent ist Madretsch zwischen 1871 und 1881 rascher gewachsen als jede andere Ortschaft des Kantons Bern. Immer mehr Schornsteine ragen in den Himmel und verkünden Prosperität. Auch die Eisenbahnlinie zwischen dem Oberdorf und dem Unterdorf symbolisiert Fortschritt und Beschleunigung. Aufstrebende Unternehmen wie die Uhrenfabrik Aebi, die Seifenfabrik Schnyder, die Pianofabrik Burger & Jacobi und die Fahrräderfabrik Cosmos schaffen Arbeitsplätze. Nicht nur für die Arbeiterbevölkerung des Dorfes, auch für viele Menschen aus der Region. Ein guter Teil der Madretscher Arbeiterschaft wirkt jedoch in Mett, nämlich in den Werkstätten der Schweizerischen Bundesbahnen.

2. Der Grütliverein als Pfeiler der Arbeiterbewegung

Vor der Gründung der SP Madretsch wird die Arbeiterbewegung des Dorfes durch den Grütliverein geprägt. Er ist Anfang Januar 1887 in der Wirtschaft «Grütli» gegründet worden und mit anderen Grütlivereinen der Region gut vernetzt1. Als Arbeiterverein mit linksbürgerlichen Wurzeln widmet er sich in erster Linie dem Ziel «Mit Bildung zur Freiheit». Doch gegen Ende des 19. Jahrhunderts bekennen sich die Grütlianer immer klarer zu sozialdemokratischen Zielen. Geführt werden sie in Madretsch von den Genossen Stalder und Reimann, letzterer wird später in Biel zum ersten sozialdemokratischen Stadtpräsidenten einer Schweizer Stadt2. Die Sektion gründet im Jahr 1890 eine Sterberentenkasse, in den Gemeindewahlen 1892 geht sie noch leer aus.3
Doch innerhalb der Bieler Arbeiterbewegung gewinnen die Madretscher Grütlianer früh an Einfluss. Im Jahr 1888 beteiligen sie sich an der Gründung der Bieler Arbeiterunion. Die ersten Jahre dieses regionalen Zusammenschlusses der Arbeiterorganisation werden vom Madretscher Gottlieb Zürcher mitgeprägt. Am 1. Mai 1890 hält er in der Wirtschaft Mattenhof die allererste Ansprache an einem Tag der Arbeit in Biel.4 Im «Kreisverband seeländischer Grütli- und Arbeitervereine» gilt der Grütliverein Madretsch gleich nach der Arbeiterunion Biel als mitgliederstärkste Organisation.5

3. Die Gründung der SP Madretsch im Jahr 1914

Die ersten Mitglieder der SP in Madretsch haben im lokalen Grütliverein mitgemacht. In Ortschaften ohne eigene SP-Sektion war das damals üblich. Im Jahr 1902 feiern die Madretscher Grütlianer ihren ersten Wahlerfolg – die Arbeitervertreter Hermann Kuprecht und Fritz Morgenthaler ziehen in den Gemeinderat ein. Kurz darauf wird ihr Kandidat Gottfried Küenzi gar in den Grossen Rat gewählt.6 Im Jahr 1913, als es innerhalb des lokalen Grütlivereins zu Spannungen zwischen dem rechten und dem linken Flügel kommt, werden drei Sozialdemokraten in den Madretscher Gemeinderat gewählt.7 Noch im selben Jahr, an der Weihnachtsfeier der Grütlianer und Sozialdemokraten, als sich die Erwachsenen mit etwa 150 Kindern um den lichterstrahlenden Christbaum versammeln, ist die neue Parteisektion das grosse Thema: Nur wenige Tage vor der Feier haben zwanzig Genossen des linken Flügels die SP Madretsch ins Leben gerufen. Die Gründer sind vor allem Arbeiter der SBB-Werkstätten und Uhrmacher. Ab dem 1. Januar 1914 soll die zweisprachige Sektion der SP des Kantons Bern beitreten und ihre Arbeit aufnehmen.8 Innert wenigen Monaten steigt die Zahl der Mitglieder auf 35. Die junge Sektion organisiert einen Bildungszyklus, dieser bringt national bekannte Referenten wie Robert Grimm nach Madretsch.9 Am 8. März feiert die Sektion den Internationalen Frauentag, indem sie ein Referat über das Frauenstimmrecht organisiert.10

4. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die Parteiarbeit in schwieriger Zeit

Im August des Gründungsjahres bricht jedoch der Erste Weltkrieg über die Menschheit herein. Die Zweite Internationale, der weltweite Zusammenschluss der sozialistischen Parteien, hat die Kriegsgefahr frühzeitig wahrgenommen und ist dagegen angegangen. In den entscheidenden Tagen jedoch haben sich die meisten sozialdemokratischen Politiker in den kriegführenden Ländern dem «Burgfrieden» mit den bürgerlichen Parteien angeschlossen. Die Glaubwürdigkeit der Internationale hat dadurch schweren Schaden genommen. Wie an den meisten Orten kommt es auch in Madretsch zu einer Schwächung der Sozialdemokraten, nicht zuletzt infolge der Einberufung vieler Aktivisten in den Militärdienst.11 Die verbliebenen Madretscher Genossen tun das Wichtigste: Sie garantieren die Nahrungsmittelversorgung auch der Ärmsten im Dorf und unterstützen Notstandsprogramme, um einkommensschwachen Familien einen Verdienst zu sichern.12 An ihrer Generalversammlung vom 19. Februar 1915 beschliesst die Sektion folgende Schwerpunkte ihrer künftigen Tätigkeit13:

  1. Stellungnahmen zu Wahlen und Abstimmungen auf lokaler, kantonaler und landesweiter Ebene
  2. Mitwirkung an der geistigen und moralischen Bildung der der Arbeiterschaft
  3. Obligatorischer Besuch der Maifeier
  4. Familienausflug
  5. Abendunterhaltung

Ein wichtiger Erfolg der Madretscher Sozialdemokraten ist die Durchsetzung des Proporzwahlrechts an der Gemeindeversammlung vom 28. Dezember 1915. Fortan können die Vertreter der Arbeiterschaft auf lokaler Ebene mehr Einfluss nehmen.14 Die Verankerung der Sektion in der Gemeinde widerspiegelt sich in ihrer guten Vertretung in den Kommissionen und im Erfolg ihrer öffentlichen Anlässe. Ausser dem Bildungsausschuss und dem Sozialdemokratischen Frauen- und Töchterverein wird ab 1916 die Jugendorganisation aktiv, zum Beispiel mit der Organisation von Unterhaltungsabenden.15 Auch mit den übrigen Organisationen der Arbeiterbewegung, etwa dem Arbeiter-Radfahrerbund, besteht ein reger Austausch.16 Zur Popularität der Sektion wird wohl auch ihre Sensibilität gegenüber dem Los der besonders Benachteiligten beigetragen haben. Zum Beispiel verzichtet der Frauen- und Töchterverein im ersten Kriegswinter auf einen Weihnachtsbaum. Mit dem gesparten Geld kauft der Verein Tuch, aus dem Kleider für Kinder aus bedürftigen Familien hergestellt werden.17

5. Sozialer Graben und Landesstreik

Anders als von den meisten Menschen erwartet dauert der Krieg an. Auch in der neutralen Schweiz werden die Lebensmittel immer teurer. Trotzdem unterlässt es der Bundesrat ganze drei Jahre, wichtige Güter zu rationieren. Der soziale Graben vertieft sich. Kein Wunder, öffnet sich ein Teil der sozialdemokratischen Mitgliedschaft radikaleren Gedanken, auch in Madretsch. Bei dieser Entwicklung spielt die Jugendorganisation eine wichtige Rolle. Sie beteiligt sich an der internationalen Kampagne gegen die Inhaftierung des deutschen Antimilitaristen Karl Liebknecht und setzt sich für verurteilte Antimilitaristen in der Schweiz ein. Im Sommer 1916 organisieren die Madretscher Jungsozialisten eine Versammlung mit Willi Münzenberg, um gegen die Unterdrückung des Pfingsttreffens der Freien Jugend in Luzern zu protestieren.18 Die SP Madretsch wächst zusehends, nicht zuletzt dank des grossen Engagements von Gottlieb Schait, seit 1916 Präsident der Sektion. In den Gemeindewahlen 1917 erreicht sie die Mehrheit im Gemeinderat und in allen Kommissionen, am ersten Juli 1918 zählt sie erstmals über hundert Mitglieder.19
Auf nationaler Ebene verhärten sich die Fronten zwischen der Arbeiterbewegung auf der einen, dem Bundesrat und der Armeeführung auf der anderen Seite. Am 11. November 1918 kommt es zum unbefristeten Landesstreik. Schweizweit beteiligen sich 250 000 Arbeiterinnen und Arbeiter daran. In der Stadt Biel leitet der ehemalige Madretscher Sozialdemokrat Ernst Bütikofer die Streikenden, viele Mitglieder der SP Madretsch engagieren sich in dieser grossen sozialpolitischen Auseiandersetzung.
Als der Landesstreik nach drei Tagen abgebrochen wird, reagieren viele von ihnen mit Empörung. Ein Bericht der Berner Tagwacht erwähnt, manche Madretscher hätten die Wiederaufnahme des Generalstreiks und eine Räteregierung gefordert.20
In der Praxis ist der Landesstreik in Biel mit grosser Besonnenheit geleitet worden. Überliefert ist zum Beispiel das besonnene Handeln des Madretscher Sozialdemokraten Ernst Studer, eines Mitglieds der Bieler Streikleitung: In Biel – nahe der Gemeindegrenze zu Madretsch – ist es unmittelbar vor der letzten Zugblockade des Streiks zu einer Schussabgabe eines Soldaten gekommen. Der Schuss hat einen Streikenden am Arm verletzt. Vor einer empörten Menge, die den blockierten Zug umringt hat, entwaffnet Studer drei Soldaten der Zugseskorte und führt sie zum Bahnhof. Seine Geistesgegenwart trägt dazu bei, dass die grosse Kraftprobe zwischen Arbeiterbewegung und bürgerlichem Staat in Biel keine Todesopfer kostet.21 Im Kontrast dazu kommt es in Biel zu einer Überreaktion der bürgerlichen Kräfte – die «Bürgerwehr» scheut gegenüber manchen Teilnehmern am Landesstreik vor Gewalt nicht zurück. Auch in Madretsch wird die Gründung einer derartigen Repressionstruppe versucht. Sie scheitert aber an zu geringem Echo.22

6. Madretsch wird zu einem Quartier der Zukunftsstadt

Eine Weichenstellung in der Geschichte der SP Madretsch ereignet sich im Jahr 1919: Das grosse Dorf Madretsch wird zu einem Quartier der Stadt Biel. Wie ist es dazu gekommen? Dass die öffentliche Hand Synergien nutzen kann, indem sie grössere Verwaltungseinheiten schafft, ist heutzutage allgemein anerkannt. Aber damals musste die Bieler Arbeiterbewegung manche Gemeindefusionen erkämpfen. Das erste gemeindesozialistische Programm der SP Biel aus dem Jahr 1913 verlangt an erster Stelle die „Fusion mit Nachbargemeinden im Interesse zentralisierter und vereinfachter Gemeindeverwaltung.23
Diese Forderung wird in den folgenden Jahren gegen bürgerlichen Widerstand nach und nach umgesetzt. Im Jahr 1917 wird Bözingen eingemeindet. Im Fall von Madretsch und Mett dauert es etwas länger, da diese Dörfer zum Amtsbezirk Nidau gehören. Aber im Jahr 1919 ist es so weit: Madretsch wird ein Quartier der Stadt Biel, die entsprechende Gemeindeabstimmung in Biel vom 8. September ergibt 3381 Ja-Stimmen und 237 Ablehnende.24 Für die SP Madretsch hat dies zur Folge, dass sie noch viel direkter als bisher am Leben der Bieler Arbeiterbewegung teilnimmt. Die SP Biel bekommt eine quicklebendige Schwesterpartei. Diese Neuentwicklung wird die Bieler Arbeiterbewegung vielfach inspirieren, aber auch zu Rivalität und zu Konflikten Anlass geben.

Quellenangaben:
1 Jubiläumsfeier in Madretsch. In: Seeländer Volksstimme, 25. 1. 1937
2 50 Jahre Sozialdemokratische Partei Madretsch. In: Seeländer Volksstimme, 22. 1. 1937
3 50 Jahre Sozialdemokratische Partei Madretsch. In: Seeländer Volksstimme, 22. 1. 1937
4 Roth Rudolf (1959) Das Volkshaus Biel und das Werden der Arbeiterbewegung
5 Kreisverband seeländischer Grütli- und Arbeitervereine, Kassabuch 1902-24
6 50 Jahre Sozialdemokratische Partei Madretsch. In: Seeländer Volksstimme, 22. 1. 1937
7 Berner Tagwacht, 8. April 1913
8 Berner Tagwacht, 27. Dezember 1913
9 Berner Tagwacht, 6. November 1914
10 Berner Tagwacht, 7. März 1914
11 Berner Tagwacht, 12. 8. 1914
12 Berner Tagwacht, 14. September 1914
13 Berner Tagwacht, 19. Januar 1915
14 Berner Tagwacht, 31. Dezember 1915
15 Berner Tagwacht, 16. März 1916
16 Kassa-Buch für die Sozialdemokratische Partei Madretsch, 1. 7. 1916 bis 1.7. 1918
17 Berner Tagwacht, 5. Januar 191518 Berner Tagwacht, 8. Juli 1916
19 Kassa-Buch für die Sozialdemokratische Partei Madretsch, 1. 7. 1916 bis 1. 7. 1918
20 Berner Tagwacht, 15. November 1918
21 Berlincourt Alain (1968). Julikrawall und Generalstreik in Biel, in: Neues Bieler Jahrbuch 1968, S. 89ff
22 Berner Tagwacht, 6. Januar 1919
23 Kästli, Tobias (1988). Das rote Biel. Theorie und Praxis des Gemeindesozialismus. In: Solidarität, Widerspruch, Bewegung. 100 Jahre Sozialdemokratische Partei der Schweiz. Zürich: Limmat Verlag
24 Berlincourt Alain (1969). Bienne il y a 50 ans. L’année 1919 vue par la presse locale. In: Neues Bieler Jahrbuch, 1969